Deutschland hat die ILO 169 zum Schutz indigener Völker ratifiziert. Das war vor einigen Wochen für wenige Tage ein paar Zeitungen eine Schlagzeile wert. Doch was heißt das eigentlich, dieses Ratifizieren? Was ist die ILO 169 und wozu nützt sie? Und ist diese Ratifizierung nun wirklich ein effektiver Schutz für indigene Völker oder doch nur schriftlich festgehaltene Lippenbekenntnisse industrieller Länder? Im Gespräch mit der Gesellschaft für indigene Völker, dem Verein Survival International, die sich für die Rechte Indigener einsetzen, und dem Naturfotografen Markus Mauthe habe ich diese Fragen erörtert. Und höchst interessante Einsichten erhalten.
Indigene Völker – Von der Definition zur Lebensweise
Sie tragen klangvolle Namen wie „Die Menschen vom Ort des Wassers“, „Die Brüder der Menschen“ oder „Der wahre Mensch“. Die Rede ist von indigenen Völkern. Jenen, deren Wortbedeutung schon „einheimisch/ursprünglich“ heißt. Zu den indigenen Völkern zählen Bevölkerungsgruppen, die noch vor jeder Eroberung, Kolonialisierung oder Staatsgründung in einem bestimmten Gebiet der Welt lebten. Jene, die ihr Land und ihre Umwelt schon kannten, nutzen und insbesondere schützten, lange bevor die industrielle Welt wusste, wofür das gut sein soll und den Begriff Nachhaltigkeit noch erfinden musste.
Im politischen Geschehen redet man von indigenen Völkern, wenn es um Nachkommen von Bewohnern eines bestimmten räumlichen Gebietes geht. Wichtig ist dies, weil damit Kollektivrechte und insbesondere Menschenrechte geltend werden, die politisch vertreten werden müssen. Dabei lässt die Bezeichnung „indigenes Volk“ aber keinen Rückschluss auf die Lebensweise der Völker zu. Auch ist damit nicht gesagt, dass ein indigenes Volk eine Minderheit in einem Land sein muss. Entscheidend ist, dass diese Völker eine ursprüngliche Bindung zu ihren jeweiligen Gebieten haben. Merkmale sind, dass sie sozial, ökonomisch und ethnisch-kulturell im Einklang, ja nahezu in einer zyklischen Abhängigkeit zu und mit ihrem Gebiet leben. Bekannte Völker in Europa sind zum Beispiel die Samen, auch wenn über deren Herkunft wissenschaftlich noch immer diskutiert wird, oder die Basken, die sich als eines der ältesten Völker Europas für ihre eigene Sprache und ein eigenes Territorium einsetzen.
Bis auf wenige Ausnahmen ist das Wissen indigener Völker meist nur mündlich überliefert worden. In mehr oder weniger kleinen Gemeinschaften lebend, ist dieses Wissen weitergegeben worden. Inzwischen gibt es aber auch indigene Völker, die das Wissen ihrer Vorfahren in Wort und Ton festhalten und somit für die Nachwelt dokumentieren und archivieren. Hierbei helfen manchmal auch Schriftsprachen, denn oft sind die sehr individuellen Gesellschaftsorganisationen auch durch die Entwicklung einer eigenen Sprache geprägt.
Oft leben indigene Völker nach ganz eigenständigen Religionen, die ohne heilige Schriften, Religionsstifter oder missionarischer Tätigkeiten auskommen. Mythen und unterschiedlichste Weltanschauungen ersetzen allmächtige Götter.
In der Regel aber gibt es einen spirituellen Bezug zur Umwelt und zu den Naturbedingungen, mit denen sie in ihrem Gebiet leben. Viele indigene Völker verbindet eine große emotionale Bindung zu ihrem Lebensraum und der Welt. Traditionen und Rituale sind oftmals eng mit dem Rhythmus der Natur verbunden.
Einige hundert der indigenen Völker leben bis heute in völliger, freiwilliger Isolation zur Außenwelt. Diese „uncontacted people“ haben meist sehr katastrophale Erfahrungen mit der Außenwelt gemacht. Sie erlauben keinerlei Kontakt und werden teilweise von der Regierung, der Verwaltung oder von Forschern aus der Luft beobachtet oder kontrolliert. Wieder andere halten Kontakt zu benachbarten Gemeinschaften oder erlauben Forschern gelegentlich Einblicke in ihre Lebensweise. Oft geraten genau diese „uncontacted people” in die internationalen Schlagzeilen. Etwa wenn Touristen*innen oder Möchtegern-Abenteurer uneingeladen in ihre Lebensräume eindringen.
Warum der Schutz? – Die Probleme indigener Völker
Heute gibt es 350 bis 370 Millionen Menschen, die zu den indigenen Völkern gezählt werden. Sie leben in etwa 90 Staaten und umfassen gut 5.000 verschiedene Kulturen. Und auch wenn der Gedanke, Umwelt und kulturelle Vielfalt in der Welt zu erhalten, inzwischen auch in der industrialisierten Welt angekommen ist, geschieht nach wie vor eines: Indigene Völker werden an den Rand der Gesellschaften, in denen sie leben, gedrängt. Ihre Rechte werden oftmals beschnitten. Land, Boden und Ressourcen, von und mit denen sie nachhaltig leben, sprechen industrielle Länder und internationale Konzerne ihnen ab oder nutzen diese gewinnbringend für den Wohlstand der industrialisierten Welt. Dabei greifen diese Konzerne und Regierungen in die Lebensgrundlage und Menschenrechte der indigenen Völker maßgeblich und oft ohne Rücksicht auf Verluste ein.
Denn bis heute ist die verbindliche und uneingeschränkte Anerkennung der Menschenrechte für indigene Völker nicht gewährleistet. Zudem fordern indigene Völker von Konzernen, die große industrielle Vorhaben auf deren genutzte oder bewohnte Territorien planen, diese nur nach freier, vorheriger, informativer Zustimmung ihrerseits umsetzen dürfen – und zwar rechtsverbindlich. Die Nutzung und Besiedlung bestimmter Territorien soll zu Gunsten der indigenen Völker priorisiert werden. Diese Punkte sind die zentralsten Elemente der Forderungen indigener Völker.
Auch diese Merkmale indigener Völker können zu Konflikten führen:
- Die freiwillige Bewahrung kultureller Besonderheiten wie etwa Sprache, Gesellschaftsorganisation, Religion oder kulturelle Werte
- Art und Weise der eigenen Produktion
- Selbstidentifikation und Anerkennung als eigenständige Gemeinschaft
Zum Schutz indigener Völker – Die Ratifizierung der ILO 169
Seit 2007 aber haben die Vereinten Nationen in ihrer Generalversammlung mit der Resolution 61/295 die Rechte indigener Völker erklärt. Die sogenannte „Allgemeine Erklärung zu den Rechten indigener Völker“. Zudem erarbeitete die ILO bereits 1991 das Übereinkommen Nr. 169, das seither von den einzelnen Ländern der Vereinten Nationen ratifiziert werden kann. Klingt doch gut, oder? Aber worum geht es hier eigentlich? Wer hat es jetzt wirklich verstanden?
Brechen wir es also auf! Um die menschenrechtlichen Ansprüche der indigenen Völker zu wahren, gibt es bei den Vereinten Nationen drei Organe: den Expertenmechanismus für die Rechte indigener Völker, den UN-Sonderberichterstatter für die Rechte indigener Völker und das Ständige Forum für indigene Angelegenheiten. Das sind also, wenn man das so bezeichnen möchte, die drei Hauptorgane.
Darunter sortiert sich als eines der zahlreichen Programme die ILO, die Internationale Arbeitsorganisation. Die ILO ist also eine Sonderabteilung. Generell ist es ihre Aufgabe, internationale Standards in punkto sozialer Gerechtigkeit sowie Menschen- und Arbeitsrechte zu fördern. Dafür erarbeitet die ILO rechtsverbindliche Übereinkommen und spricht Empfehlungen aus. Im September 1991 erarbeitete und verabschiedete die ILO das Übereinkommen Nr. 169 – also einfach das 169te Übereinkommen. Dieses Übereinkommen definiert die Rechte der indigenen Völker und nennt sich gehaltvoll „Das Übereinkommen über eingeborene und in Stämmen lebende Völker in unabhängigen Ländern“.
Es ist aber weit mehr als ein Merkblatt oder Infoflyer. Es ist die einzige internationale Norm, die den indigenen Völkern rechtsverbindlichen Schutz und Anspruch auf eine Vielzahl an Grundrechten garantiert. Diese Rechte sind also juristisch einklagbar. Das Übereinkommen umfasst 44 Artikel. Sie erkennt die Bestrebungen der Völker an, im Rahmen der Staaten, in denen sie leben, Kontrolle über ihre Einrichtungen, Lebensweise und wirtschaftliche Entwicklung auszuüben. Das Übereinkommen erkennt an, dass die Identität, Sprache und Religion indigener Völker zu bewahren und zu entwickeln ist. Jedes Land, das dieses Übereinkommen unterzeichnet, verpflichtet sich also, die Rechte indigener Völker zu achten, sie nicht zu diskriminieren oder andernfalls juristisch belangbar für Vergehen zu sein. First goal!
Erst Jahre später – im September 2007 – erkannte die UN-Generalversammlung mit der Resolution 61/295 die Rechte indigener Völker an und erklärte diese. Wenn auch spät, ist es doch besser als nie, also: Second goal!
Läuft doch, könnte man meinen. Doch seit 1991 haben gerade einmal 23 Länder das ILO Übereinkommen 169 anerkannt. Wir sprechen hier von den letzten 30 Jahren! Als 24. Land beschloss Deutschland am 15. April 2021 die Ratifizierung der ILO 169. Ach, da war ja noch was. Was ist denn das eigentlich, diese Ratifizierung?
Eine Ratifizierung ist ein juristischer Fachbegriff und bezieht sich auf völkerrechtliche Erklärungen. Werden diese verbindlichen Erklärungen durch einen abgeschlossenen, also unterzeichneten völkerrechtlichen Vertrag bestätigt, spricht man von einer Ratifizierung. Durch die Ratifizierung erhält eine Erklärung Rechtskraft und ist somit völkerrechtlich gültig. Sobald der Bundespräsident diese Ratifizierung unterzeichnet, hat Deutschland einen völkerrechtlichen Vertrag unterzeichnet und damit den Vertrag zum Schutz indigener Völker bestätigt. Next Goal! Könnte man zumindest meinen.
Warum hat Deutschland so lange für die Ratifizierung gebraucht?
Die Frage lässt sich knapp beantworten, auch wenn es ein langer Weg war. Denn es war ein Weg geteert mit Abwehr, Verteidigung, Pech und politischer Untätigkeit. Unter der Kohl-Regierung reichten Die Grünen 1993 mit Unterstützung der SPD zum ersten Mal einen Antrag zur Ratifizierung der ILO 169 in den Deutschen Bundestag. Dieser wurde allerdings abgelehnt mit der Begründung, dass in der Bundesrepublik kein indigenes Volk lebt, sodass dieses Abkommen weder erfüllt noch gegen dieses verstoßen werden kann. Eine bis heute übrigens sehr beliebte, krude Argumentation anderer Länder, die die ILO 169 nicht ratifizieren. 2002 und 2003 diskutierte man wieder über die Ratifizierung der ILO 169. Doch dann löste sich der Bundestag 2005 vorzeitig auf und das Vorhaben verlief im Sande. Lange Zeit geschah dann politisch nichts, außer dass viel Überzeugungsarbeit seitens Menschenrechtsorganisationen und NGOs geleistet wurde. Schließlich nahm sich der Bundesrat im März 2015 der ILO 169 wieder an. Doch die Legislaturperiode verging, ohne dass es zu einer Ratifizierung kam. 2017 aber war die Ratifizierung der ILO 169 Teil des geschlossenen Koalitionsvertrags. Und nun endlich – knapp 30 Jahre nach Erstantrag – klappte es.
Nur Lippenbekenntnisse oder echte Chance?
Doch während meiner Recherche war es insbesondere ein Satz, über den ich stolperte und der mich beunruhigte. „Eine Ratifizierung schließt zwar einen Vertrag ab, aber die Umsetzung ist davon unabhängig.“ Was soll das heißen, fragte ich mich. Ist die Ratifizierung letztlich nur ein Lippenbekenntnis? Das nächste Blatt Papier, das sinnlos für einen Vertrag hergehalten hat? Wenn die Umsetzung unabhängig ist, wie will man deren Durchsetzung überhaupt gewährleisten? Was verändert sich jetzt für deutsche Unternehmen durch die Ratifizierung?
Um Antworten zu erhalten, wandte ich mich an die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) in Deutschland. Zudem sprach ich mit der internationalen Nichtregierungsorganisation Survival International, die sich für die Rechte indigener Völker einsetzen, sowie mit dem Naturfotografen Markus Mauthe. Dieser bereiste für seinen Kinofilm „An den Rändern der Welt“ indigene Völker weltweit und dokumentierte ihr Leben und ihre Kultur.
Was verändert sich jetzt? - Pflichten und Folgen bei Verletzung der ILO 169
„Deutsche Unternehmen oder geplante Projekte müssen nun sicherstellen, dass die Menschenrechte und insbesondere die Landrechte der Indigenen bei ihrer Umsetzung nicht verletzt werden“, erläutert Niklas Ennen, Pressesprecher von Survival International Berlin. „Sie müssen also bei ihrer Planung die indigenen Völker mitdenken. Das ist ein sehr großer Schritt, den wir sehr begrüßen.“
Auch Yvonne Bangert, Referentin für indigene Völker bei der GfbV, bestätigt die Wichtigkeit der Konvention mit den einhergehenden Grundrechten für Indigene. „Die Rechte der Indigenen wiegen nun schwerer bei Land- und Nutzungsrechten und sind im juristischen Sinne einklagbar gegen deutsche Konzerne, wenn diese wissentlich verletzt werden. Durch die Ratifizierung begibt sich Deutschland auf Augenhöhe mit indigenen Völkern bei geplanten Eingriffen in ihren Lebensraum.“ Allerdings sagt sie auch, dass die Konvention ein Gentleman Agreement bleibt, wenn sie nicht umgesetzt wird. „Erst durch ihre Anwendung bekommt die ILO 169 Bedeutung und Gewicht.“
Doch genau diese Anwendung bereitet nicht nur mir, sondern auch dem Naturfotografen Markus Mauthe Magenschmerzen. „Ich habe noch nie erlebt, dass sich einzig aus der Gesetzgebung eines Staates wirklich etwas verändert hat. Nur, weil man gesetzlich nicht töten darf, haben Menschen nicht aufgehört, zu morden. Und nur, weil es jetzt die Ratifizierung der ILO 169 gibt, ändert sich für die indigenen Völker noch gar nichts.“ Für Mauthe sind solche Gesetze notwendige, kleine Bauteile, die alle gemeinsam den Anstoß zu einer wirklichen Veränderung bringen. „Wir müssen diese Konvention mit Leben und Aktion füllen, aber losgelöst von Wirtschaft und Kapital. Diese dürfen nicht darüberstehen. Sonst ändert sich nichts.“
Und tatsächlich gibt es nun nicht ab sofort einen geregelten Ablauf bei geplanten Projekten in Lebensräumen indigener Völker. „Es kommt auf die Gesetze in den Ländern an, in denen die Projekte geplant sind“, erklärt Ennen. „Es ist ganz unterschiedlich, ob jetzt die deutschen Unternehmen oder Institutionen mit den indigenen Völkern sprechen müssen oder ob der jeweilige Nationalstaat diese Aufgabe übernimmt und den Kontakt zu den Indigenen herstellt.“
In der Praxis fällt die Zuständigkeit der Kontaktaufnahme zu den indigenen Völkern und die Umsetzung der geplanten Projekte unter Einhaltung der ILO 169 aber sehr häufig auf die jeweiligen nationalen Behörden. Meist führen sie auch geplante Umsiedlungen durch. Doch hierbei werden sie oft aus wirtschaftlichen Interessen von ausländischen Investoren unter Druck gesetzt oder gedrängt. Trotz dieser Schwachstellen muss festgehalten werden, dass es bereits einige erfolgreiche Klagen indigener Völker gegen Nationalstaaten gab. Durch die Ratifizierung der ILO 169 war es ihnen möglich, Reparaturleistungen zu erwirken oder geplante bzw. existierende Vorhaben zu stoppen.
Wie erfahren indigene Völker überhaupt von ihren Rechten?
Um diese Frage gerecht beantworten zu können, muss man wissen, dass indigene Völker sehr unterschiedlich agieren und an die Außenwelt angeschlossen sind. So gibt es indigene Völker, die politisch sehr engagiert sind und sich für ihre Rechte stark machen. Das bestätigt auch Yvonne Bangert von der GfbV. „Es gibt inzwischen eine ganze Generation von Indigenen, die zum Beispiel Juristen sind oder in die Politik gehen, um sich zu engagieren. Viele indigene Völker wissen inzwischen von ihren Rechten, sie setzen sich ein, tauschen sich aus und nehmen an Konferenzen der UNO teil. Teilweise agieren sie in selbstorganisierten Räten und sind sehr, sehr gut organisiert. Auch das Internet hat Einzug in ihr Leben gefunden und wird genutzt.“
Wieder andere indigene Völker haben keinen Zugang zu Informationen. „Es gibt einfach kein geregeltes System für den Informationsfluss“, kritistiert Ennen von Survival International. „Hier fehlt es häufig an richtigen Übersetzungen in die jeweilige Sprache. Oft erfahren die indigenen Völker erst durch den Einsatz von NGOs von ihren Rechten.“
Diese Einschätzung teilt auch Markus Mauthe. „Ich kann nur bestätigen, dass es häufig die Arbeit von NGOs ist, die Informationen an indigene Völker weitergeben und sie unterstützen. Von staatlicher Seite erfolgt oftmals nichts. Im Gegenteil. Vielen Ländern ist eher daran gelegen, die Indigenen loszuwerden.“
Deshalb sieht Yvonne Bangert eine zentrale Aufgabe ihrer Organisation darin „bei bestimmten Regierungen den Finger immer wieder in die Wunde zu legen, wenn sie gegen die Rechte der indigenen Völker verstoßen. Aber eben auch dazu beizutragen, Indigene aufzuklären und ihnen zu zeigen, wie sie das Durchsetzen ihrer Rechte bewerkstelligen können.“
Die Rechte gemäß der ILO 169 – Aufgesetzte westliche Werte?
Wer die ILO 169 in seiner gesamten Länge liest, stellt schnell fest, wie westlich die darin festgehaltenen Rechte der Indigenen klingen. Die 44 Artikel umfassen neben Land- und Menschenrechten auch Themen wie Schulbildung und Gleichberechtigung. Diese Punkte kann man schnell missverstehen, sie können wie ein Diktat aus der westlichen Welt klingen. Aber Markus Mauthe fasst sie hervorragend zusammen: „An erster Stelle und am wichtigsten an der Konvention ist die Selbstbestimmung der indigenen Völker. Diese wird mit der Ratifizierung anerkannt. Aber die Konvention entsteht aus unserem Verständnis der Menschenwürde. Dennoch werden hier keine Rechte oder Gesetze für indigene Völker diktiert. Ihnen wird nur zugesprochen, diese für sich und ihre Anliegen nutzen zu können.“
Aus Sicht der beiden Organisationen nutzen indigene Völker punktuell und in ihrem Ermessen die Errungenschaften der westlichen Welt. Nur eben anders, als wir es kennen. So lassen sie sich gerne im Umgang mit dem Internet schulen, um an ihre Informationen zu kommen oder mit der Außenwelt kommunizieren zu können. Sie lernen zum Beispiel Solarmodule zu nutzen und zu bedienen. Einige indigene Völker setzen auch durch das Erlernen der Auswertung von GPS-Daten moderne Technologie ein, um ihre Gebiete und Lebensräume zu schützen. Etwa, wenn es um illegale Waldrodungen im Amazonas geht. Gelegentlich sind es auch Materialien wie Metall, das sie nicht selbst herstellen können, aber gerne in ihre Lebensweise einbinden.
Survival International erläutert zudem, dass es wichtig ist, indigenen Völkern Angebote wie Schulbildung zu machen. Aber nur, wenn damit keine Verpflichtungen für die Indigenen einhergehen. „Wenn sie in eine öffentliche Schule gehen und unterrichtet werden wollen, wenn sie sich das wünschen, dann sollten sie auf jeden Fall Zugang dazu erhalten. Aber generell bilden und unterrichten indigene Völker anders als wir es kennen. Es gibt in der Regel keine festen Schulen. Kinder und Jugendliche werden in ihrem Alltag von allen Mitgliedern der Gemeinschaft unterstützt. Ihnen werden die Lebensweisen, Jagdtechniken, Bräuche und Traditionen beigebracht. Das ist ihre Art der Bildung. Wenn sie darüber hinaus gebildet und unterrichtet werden möchten, ist dies unterstützenswert.“
Entschieden stellen sich die Gesellschaften und Organisationen für indigene Völker aber gegen Zwangsmaßnahmen. Bestes Beispiel dafür ist das Vorgehen gegen Indigene in Indien. Hier werden die Kinder der Indigenen aus ihren Gemeinschaften geholt und in große Internate gesteckt. Oft sehen sie ihre Eltern dann nur noch ein- oder zweimal im Jahr. Ihnen wird bessere Bildung versprochen. Aber in den Internaten wird den Kindern eingetrichtert, wie primitiv und schlecht ihre traditionelle Lebensweise ist. Dass es notwendig ist, diese abzulegen und sich in die Mehrheitsgesellschaft zu integrieren. „Das ist eine Form, die weder wir noch irgendein anderer klardenkender Mensch unterstützen kann. Es läuft nur darauf hinaus, die indigenen Völker zu zerstören, um an ihre ressourcenreichen Gebiete zu gelangen“, sagt Ennen entschieden.
Bangert von der GfbV unterstreicht diese Aussage. „Es ist wichtig, dass wir verstehen, dass zwar einige westliche Errungenschaften sehr positiv bewertet werden, aber die indigenen Völker grundsätzlich nicht auf Hilfe von außen angewiesen sind. Diese Völker sind sehr autark, sie können sich selbst versorgen. Wir müssen verstehen, dass sie oft gar nicht so leben möchten wie wir oder nur spezifisch Faktoren unserer Welt nutzen wollen.“
Andere Länder, andere Umsetzungen - Probleme der Umsetzung
Ein anderes großes Problem der indigenen Völker ist die politische und wirtschaftliche Situation der Staaten, in denen sie leben. „Die große Schwierigkeit besteht darin, dass die meisten Staaten es nicht einmal schaffen, solche Idealbedingungen für ihre Mehrheitsbevölkerung umzusetzen“, sagt Naturfotograf Markus Mauthe. „Geschweige denn, dass dort Brücken zu den Indigenen gebaut werden.“
Damit bringt Mauthe einen wesentlichen Punkt zur Sprache. Denn oft werden solche Konventionen in der Praxis aufgrund von Bestechung oder Druckausübung unterlaufen. Auch Reparaturzahlungen an Indigene oder Umsiedlungen dieser Gemeinschaften erweisen sich immer wieder als Täuschungsversuch. „Häufig wird bei solchen Reparaturzahlungen oder Umsiedlungen getrickst und gelogen. Den Indigenen wird ein sehr schönes Leben und Unterstützung versprochen“, erläutert Ennen von Survival International.
Hinzu kommen die Verlockungen der Moderne und der Komfort der zivilisierten Welt. Markus Mauthe konnte die Zerrissenheit vieler indigener Völker beobachten. „Viele leben in einer Schwebezone zwischen traditionellem Leben und moderner Zivilisation. Durch die Zerstörung ihrer Umwelt können sie oft gar nicht mehr so ursprünglich leben und wirtschaften wie sie es gewohnt waren. Hinzu kommt der Gedanke der jungen Generation, die Verlockungen der zivilisierten Gesellschaft spannender zu finden, als mit dem Opa um das Feuer zu tanzen“, sagt Mauthe. „Sie klopfen also einerseits an die Tür der modernen Gesellschaften, aber die meisten machen die Tür einfach nicht auf.“
Stattdessen begegnet man indigenen Völkern oft mit viel List und Täuschungen. Grund hierfür sind die intakten und ressourcenreichen Gebiete, in denen sie leben. „Für unsere kapitalistische Wirtschaft sind diese Gebiete sehr interessant. Oft findet man seltene Ressourcen, die Wälder sind gesund. Man möchte aber möglichst wenig ausgeben, um an diese Ressourcen zu kommen. Und würde man die Indigenen wirklich vorher wahrheitsgemäß informieren, würden sie den Plänen und Projekten häufig nicht zustimmen. Ihre Forderungen wären viel höher und das geplante Unterfangen damit meist wesentlich teurer“, erklärt Ennen. „Also greift man auf Lug und Trug oder brutale Vertreibungen, Folter, Mord und Vergewaltigung zurück.“
Und so verschlechtert sich die Situation der indigenen Völker immer weiter. „Häufig werden sie in slumartige Lager gesteckt. Ihre Sterblichkeits- und Suizidrate steigt deutlich an, sie leben wesentlich ungesünder und werden von der Mehrheitsgesellschaft ausgegrenzt und diskriminiert“, erläutert Ennen von Survival International.
Es ist also der Neid und die Gier der zivilisierten Welt auf die intakte Umgebung der Indigenen, die zu viel Leid und Not führt. Denn die zivilisierte Welt braucht diese Ressourcen, um den eigenen Lebensstil weiter erhalten zu können. Immerhin liegen rund 80 % der globalen Artenvielfalt und viele große Ressourcen-Vorkommnisse in indigenen Gebieten.
Aber immer mehr indigene Völker begehren gegen diese Vorgehensweisen auf. „Sie wissen, dass ihre Ablehnung zu großen Problemen führen kann. Sie müssen Drohungen aushalten, es wird gemordet. Ungefährlich ist das nicht. Wir wissen, dass es gerade in Brasilien eine sehr hohe Zahl an Toten gibt, weil Indigene ihre Gebiete schützen wollten“, sagt Bangert von der GfbV.
Fazit und nachfolgende Forderungen – Die Wirksamkeit der ILO 169
Nach all diesen Gesprächen kann ich nur zu dem Fazit kommen, dass die Ratifizierung der ILO 169 ein sehr begrüßenswerter, guter Schritt ist. Aber um es in Markus Mauthes Worten wiederzugeben: Es kann nur ein Baustein sein. Es hat eine gesellschaftliche Strahlkraft. Nach innen und nach außen. Es gibt ein wichtiges Signal, wie wir in Deutschland mit indigenen Völkern und ihren Rechten umgehen möchten. Aber als wichtige internationale Wirtschaftskraft sendet Deutschland mit der Ratifizierung auch ein Signal in die Welt.
Und so hofft auch die Gesellschaft für bedrohte Völker auf Nachahmer. „Wir wünschen uns, dass noch mehr wirtschaftlich gewichtige Staaten jetzt ebenfalls ratifizieren. Dadurch würde die Konvention immer mehr an Bedeutung gewinnen“, sagt Bangert. „Wir wünschen uns eine Begegnung mit indigenen Völkern auf Augenhöhe.“
Darauf hofft auch Survival International. Darüber hinaus fordern sie, dass indigene Völker bei der Einrichtung von Schutzgebieten in den Mittelpunkt gestellt und angehört werden. „Ihre Interessen müssen respektiert und berücksichtigt werden“, sagt Ennen. Deshalb startete Survival International jüngst die Kampagne „Big Green Lie“. Über ihren Inhalt und die Ziele lest ihr hier demnächst in einem weiteren Artikel. Gerne aber könnt ihr euch jetzt schon auf der Website der Organisation darüber informieren.
„Wir, die indigenen Menschen, haben nicht vergessen, dass der Mensch Teil der Natur ist. Wenn wir die Natur verletzen, verletzen wir uns auch selber. Wir wissen, wie man die Wälder beschützt. Gebt sie uns zurück, bevor sie sterben.“
Aber ihr könnt noch mehr tun! Tatsächlich laufen viele Petitionen indigener Völker gegen geplante Maßnahmen und Projekte. Mit eurer Unterschrift könnt ihr diesen Völker helfen, sich und ihre Umwelt zu schützen. Die Links findet ihr in den Infokästen der beiden Organisationen. Denn in diesem Fall bringt eure Stimme wirklich Bewegung in eine Sache. Das kann auch Markus Mauthe nur bestätigen. „Oftmals sind es die NGOs, die effektiv Hilfe bei den indigenen Völkern leisten und nicht der Staat. Da gilt es, diese mit vielen finanziellen Mitteln zu unterstützen.“
Denn in seinen Augen treibt ein Großteil der indigenen Völker wie auf Treibsand. „Sie schauen zurück auf die Traditionen ihrer Ahnen und sehen doch die Verheißungen der Moderne. Diese Konvention mit Leben zu füllen, kann tatsächlich helfen, den Indigenen wieder Boden unter den Füßen zu verschaffen. Es kann sie unterstützen, ihre Kultur und Traditionen zu erhalten und ihnen dennoch einen Platz in unserer Gesellschaft zu schaffen.“
Besonders schön fasst Bangert die Situation zusammen: „Es gibt nur diese eine Erde, auf der wir alle leben. Indigene strecken die Hand aus, sagen, wir haben die Erfahrung, wie man auf diesem Planeten nachhaltig lebt und wir sind bereit, das zu teilen. Wir sollten voneinander lernen und diese Hand annehmen statt uns auf das hohe Ross zu setzen und über ihre Köpfe hinweg zu entscheiden.“
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Infokästen
Gesellschaft für bedrohte Völker
Survival International
Markus Mauthe
Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) setzt sich für verfolgte und bedrohte ethnische und religiöse Minderheiten, Nationalitäten und indigene Gemeinschaften ein. 1970 entstanden aus der zwei Jahre zuvor gegründeten Hamburger Aktion „Biafra-Hilfe“, macht sich die GfbV durch die Verbreitung von Informationen, Lobbyarbeit, politische Kampagnen und Petitionen sowie Initiativen unter anderem für die Menschenrechte indigener Völker stark. Ziel der Organisation ist es, Völkermorde, Vertreibung, Rassismus und jede Art von Unterdrückung von Minderheiten weltweit aufzudecken, anzuprangern und möglichst zu verhindern. Wesentliches Anliegen der Organisation ist es, die Betroffenen selbst zu Wort kommen zu lassen.
Die internationale Nichtregierungsorganisation Survival International wurde 1969 in London gegründet. Ausgezeichnet mit dem Right Livelihood Award, setzt Survival International sich weltweit für indigene Völker und den Schutz ihrer Land- und Menschenrechte ein. Dabei wird keine klassische Entwicklungshilfe geleistet. Survival International setzt auf Aufklärung, Lobbyarbeit und Kampagnen und Petitionen zur Unterstützung indigener Völker. Ziel der Organisation ist es auch, Aufklärungsarbeit über das Leben indigener Völker zu leisten.
Seit über 30 Jahren bereist Markus Mauthe als Naturfotograf die Welt. Mit seinen Reisegeschichten und Live-Präsentationen begeistert Markus Mauthe sein Publikum. Im Laufe der Zeit setzte sich Markus Mauthe bestärkt durch seine Reisetätigkeit verstärkt für den Erhalt der Natur und des Planeten ein. Seit 2002 ist Mauthe als Greenpeace-Botschafter unterwegs. Seine Dokumentationen sorgten für viel Aufsehen, Aufklärung und Verständnis. Für sein Projekt „An den Rändern der Welt“ reiste Markus Mauthe 2018 zu verschiedensten indigenen Völkern weltweit. Gemeinsam mit seinem Team gelang ihm ein einzigartiger Film und Bildband über indigenes Leben auf unserem Planeten. Sein aktuelles Projekt, zu dem es regelmäßige Livestreams mit unterschiedlichen Gästen auf YouTube gibt, nennt sich „Allein kann ich die Welt nicht retten“.
Länder, die die ILO 169 ratifiziert haben
Aktive Projekte deutscher Unternehmen
Am 5. September 1991 trat die ILO 169 in Kraft. Diese Länder haben die ILO 169 ratifiziert (inkl. Jahresangabe)
- Mexiko (1990)
- Norwegen (1990)
- Argentinien (1991)
- Bolivien (1991)
- Kolumbien (1991)
- Costa Rica (1993)
- Paraguay (1993)
- Peru (1994)
- Honduras (1995)
- Dänemark (1996)
- Guatemala (1996)
- Ecuador (1998)
- Fidschi (1998)
- Niederlande (1998)
- Brasilien (2002)
- Dominica (2002)
- Venezuela (2002)
- Nepal (2007)
- Spanien (2007)
- Chile (2008)
- Nicaragua (2010)
- Zentralafrikanische Republik (2010)
- Luxemburg (2018)
- Deutschland (2021)
Bedeutende Staaten wir Kanada, USA, Russland, China, Schweden, Finnland und Australien, in denen indigene Völker leben, haben dieses Übereinkommen bisher nicht unterzeichnet.
(Stand 05/2021)
Negativbeispiel: Bayer Monsanto
Ökozid und Pestizid-Export sowie die Folgen für Indigene lest ihr zusammengefasst im Bericht der GfbV
Positivbeispiel: Aurubis Kupferabbau
Aurubis bezieht Primär- und Sekundärrohstoffe für seine Primärkupfererzeugung und sein Recyclinggeschäft insbesondere aus Südamerika und Asien. Um Menschenrechte und Grundrechte Indigener zu wahren, wandte das Unternehmen sich vorweg an die GfbV und ist seit 2014 Mitglied im UN Global Compact.
Weiterführende Links
Zeiterfassung Artikelerstellung
- Ideenfindung und Recherche der Gesprächspartner: 1 Stunde
- Anfrage und Vorgespräche mit den Gesprächspartnern: 1 Stunde
- Recherche zur Thematik: 8 Stunden
- Überlegung Text-/Interviewaufbau: 1 Stunde
- Interviewzeit: 3,5 Stunden
- Interview-Auswertung: 3 Stunden
- Artikel schreiben: 8 Stunden
- Artikel Abnahme, Verifizierung und Korrektur: 1,5 Stunden
- Artikel einpflegen und veröffentlichen: 1,5 Stunden
= Arbeitszeit gesamt: 28,5 Stunden