Der NDR hat seinen Relotius – Über Journalismus, Lügen und die Leserschaft

Filmemacherin Elke Lehrenkrauss wurde mehrfach für ihren Film „Lovemobile“ ausgezeichnet. Finanziert und ausgezeichnet vom NDR, wurde die vermeintliche Dokumentation im Dezember letzten Jahres ausgestrahlt. Darin geht es im Hauptkern um Prostitution in kleinen Wohnwagen (sog. Lovemobiles) am Straßenrand. Im Fokus standen zwei Prostituierte, die über ihre Arbeit, ihre Kunden und den daraus resultierenden Folgen wie Ausbeutung oder Erniedrigung berichten.

Nun stellte sich aber heraus, dass die dargestellten Szenen eben eine Darstellung, eine schauspielerische Inszenierung waren. So wird aus dieser hochgelobten Dokumentation leider eine Fiktion. Denn das Genre der Dokumentation lebt von realen Bildern, realen Darstellungen und realen Gesprächen. An Dokumentationen haftet Authentizität, Realität und Wahrhaftigkeit. Sie ist eben kein Film, kein Showreel und auch keine fantasievoll erzählte Geschichte. Genau dieses Laster hat man vor rund zwei Jahren auch mit dem Genre der Reportagen erlebt. Jedem sollte inzwischen der Name Relotius etwas sagen. Ein ganzes journalistisches Segment ist aufgrund der Hochstaplerei und der notorischen Lügen von Relotius unter Generalverdacht geraten.

Denn die Schwierigkeit beider journalistischer Darstellungsarten ist, Spannung zu erzeugen, Gefühle einzufangen, den Leser in den Bann zu ziehen und ihn möglichst emotional zu berühren. Und zwar anhand von Fakten. Leider aber ist die Realität eben meist nicht von perfekten Zitaten, idealen Szenen und passender Musik im Hintergrund unterlegt. Und genau dieses Spannungsfeld macht sowohl das Genre der Dokumentationen wie auch der Reportagen zu den Königsdisziplinen des Journalismus. Nichts ist schwieriger, als ein faktenbelegtes, emotionales, reales Szenario einfangen zu können. Nur investigativer Journalismus ist schwieriger, wenn er doch auch ein ganz anderes Feld bedient.

Beide „Journalisten“, sowohl Relotius wie auch Lehrenkrauss, haben ihrem Genre mit ihren Fälschungen und Fiktionen einen Bärendienst erwiesen. Und noch schlimmer als das: Sie haben den Betroffenen, den behandelten Themen einen Bärendienst erwiesen. Denn nichts ist für Leser*innen schlimmer, als von Fakten zu lesen, die sich als Lügen oder Halbwahrheiten herausstellen. Aber nicht nur die Leser*innen leiden unter diesen falsch veröffentlichten Texten und Filmen. Die gesamte Berufssparte leidet darunter. In Zeiten von Fake News und Lügenpresse sogar schlimmer denn je, spielen solche Richtigstellungen doch den Feinden und Zweiflern des Journalismus direkt das Elfmeter-Tor zu.

Es hilft nun auch nicht, stets die Redaktionen zu loben, sie hätten schließlich für eine Aufklärung und die Wahrheit gesorgt. Nein, im Gegenteil. Es ist ihre Pflicht für eben jene Punkte zu sorgen. Denn sie haben vorweg eines nicht getan: Verhindert, dass es überhaupt zu diesen falschen Presseerzeugnissen kommt. Und das wäre ihre höchste journalistische Pflicht gewesen.

Aber wie kann das eigentlich sein? Wieso kommt es überhaupt zu solchen Fake News und solchen nicht geprüften Darstellungen? Die Antworten darauf sind tiefgreifend und vielschichtig. Eben nicht einfach so zu beantworten. Sie beginnen zum einen bei der Gutgläubigkeit der Rechercheredaktion einem Journalisten gegenüber. Wer Preise einheimst, wer gelobt wird, wer tolle Artikel und Reportagen mit in die Redaktion bringt, wird mit der Zeit kaum noch überprüft. Das ist aber nicht das einzige Problem und stellenweise ist es kaum einer Redaktion noch vorzuwerfen. Meiner Meinung nach liegt das Problem nämlich viel tiefer: Es liegt daran, dass die allermeisten Redaktionen überhaupt keine Recherche- und Dokumentationsabteilung mehr haben. Sie sind einfach zu teuer. In Zeiten, in denen Menschen über das Internet alles zu jeder Zeit nahezu ungefiltert konsumieren können, sind die allermeisten Redaktionen nicht mehr in der Lage, diese Abteilungen aufrecht zu erhalten. Ein weiterer entscheidender Faktor ergibt sich fast von selbst aus diesem Punkt: Es ist die Schnelllebigkeit. Schlagzeilen müssen im Eilticker, Eilmeldungen, Blitz-News veröffentlicht werden. Kaum einem Journalisten ist es heute möglich, Fakten zu prüfen. Denn das dauert schlicht zu lange. Es ist ein gefährlicher Holzweg, den der Journalismus da geht. Aber er hat ihn schon lange betreten und das ist nicht abstreitbar. Heutzutage hat ein Journalist kaum mehr die Möglichkeit, wirklich lange Recherchen durchzuführen – oder er/sie tut dies in weiten Teilen unbezahlt. Und bekommt am Ende seiner Recherche oft tatsächlich im Zeit-Aufwand-Verhältnis einen Hungerlohn dafür. Es gibt wenige, sehr privilegierte Journalistin*innen, die bezahlt werden für den tatsächlichen Aufwand, den sie betreiben. Dabei ist die Recherche, der Umgang mit Quellen, der Zweifel und die Überprüfung der Aussagen und Angaben unser höchstes journalistisches Gut. Und ich habe nicht mal mit den freien Journalisten*innen angefangen. Ich spreche hier nur von den festangestellten Kollegen.

Ganze Lokalredaktionen werden gestrichen, Auflagen reduziert, Themen nicht behandelt, weil entweder der Platz oder die Zeit oder das vermeintliche Interesse der Leser*innen fehlt. Manchmal ist es auch den Anzeigenkunden ein Dorn im Auge. Alles brandgefährliche Entwicklungen.

Genauso brandgefährlich wie das Konsumverhalten der Leser*innen. Jenen, die oft nur noch die Überschrift lesen. Es ist eine Schande, dass Redaktionen inzwischen eine Lesezeit beim Anklicken eines Artikels angeben müssen. Haben Leser*innen eventuell doch länger als dreißig Sekunden, um einen komplexen Sachverhalt zu überblicken oder eine Affäre und ihre Hintergründe zu begreifen? Können und wollen sie noch länger als 5 Minuten einen Artikel lesen oder überschreitet das bereits die Aufnahmefähigkeit in einer schnelllebigen Medienwelt? Es ist schlimm, dass Leser*innen kaum mehr bereit sind, für wirklichen, tiefgründigen Journalismus zu bezahlen. Bezahlschranken, was soll das, fragen sie sich. Oft geschriebene Kommentare wie „Ich kann den Artikel nicht lesen, ich muss dafür bezahlen“ sind vollkommene Normalität geworden. Sonst holt man sich die Informationen eben über YouTube. Das kostet ja nix außer vielleicht 1,5 Minuten Werbung.

All dies sind gefährliche Wege. Sowohl von Seiten des Journalismus wie auch von Seiten der Leser*innen und Konsumenten. Es führt zu Spaltungen, es führt zu Falschmeldungen, Missverständnissen und schlechten Rechtfertigungen seitens der Medienmacher. Nur der Konsument packt sich selten an die eigene Nase. Er hat das Vorrecht, einen Kommentar zu schreiben, ohne je bezahlt und gelesen zu haben, was er da kommentiert.

Es ist traurig mit anzusehen. Traurig, nicht gegen solche Entwicklungen anzukommen oder kaum mehr etwas dagegen tun zu können. Ich möchte aber dennoch betonen, dass nicht wir Journalisten*innen einfach immer Hochstapler, Lügner und Fälscher sind. Im gleichen Atemzug wie Relotius sollte man den Namen Juan Moreno nennen. Im gleichen Atemzug zu „Lovemobile“ die Redaktion STRG_F. Die allermeisten meiner Kollegen*innen machen einen hervorragenden Job mit allerhöchster Sorgfalt. Es ist verkehrt, sie einfach als Lügenpresse darzustellen. Ohne sie und ihre Arbeit wüssten wir extrem vieles nicht. Man denke nur jüngst an die Masken-Affäre.

Wir sollten nachdenken, wie unser Umgang mit Medien und Journalisten in Zukunft aussehen soll. Ich habe diesmal keinen Hinweis gegeben, dass dies ein sehr langer Text ist. Vielleicht irre ich mich, dann belehrt mich eines Besseren, aber ich bin sicher: Er ist zu lang für Social Media oder einen Blog.

Leave a Reply

You must be logged in to post a comment.

Durch die weitere Nutzung der Seite stimmst du der Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen. Wenn du diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwendest oder auf "Akzeptieren" klickst, erklärst du sich damit einverstanden.

Schließen